Historische Theologie

Dietrich Meyer (Hg.): Nikolaus Ludwig von Zinzendorf

Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Bibel und Bibelgebrauch, hg. von Dietrich Meyer in Zusammenarbeit mit Kai Dose und Jürgen Quack, Bd. 1: Bibelübersetzung, TGP IV: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf Werke 7/1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, Ln., 532 S., € 110,–, ISBN 978-3-525-55856-0

Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Bibel und Bibelgebrauch, hg. von Dietrich Meyer in Zusammenarbeit mit Kai Dose und Helmut Schneider, Bd. 2: Zinzendorfs Übersetzung des Neuen Testaments, Evangelien und Apostelgeschichte, TGP IV: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf Werke 7/2, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, Ln., 741 S., € 130,–, ISBN 978-3-525-55857-7

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Der voluminöse, editorisch und auch graphisch hervorragend gestaltete Band enthält eine Allgemeine Einleitung zur Zinzendorf-Auswahl-Ausgabe, eine spezielle Einführung in deren Bd. 7 (bestehend aus mehreren Teilbänden), Grundsätze für die Edition der Werke Zinzendorfs, ein Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur und ein Abkürzungsverzeichnis der Zinzendorf-Schriften (nach dem von Dietrich Meyer herausgegebenen Bibliographischen Handbuch zur Zinzendorfforschung, Düsseldorf 1987). Auf diese Weise ist der Leser gut gerüstet, um sich in einer Vielzahl von Anmerkungen, Hinweisen, Biogrammen, Glossaren, die diese kritische Ausgabe der Zinzendorf-Werke auszeichnet, zurechtzufinden. Angesichts einer vielbändigen, von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer bereits in den 1960er Jahren begonnenen und von Matthias Meyer und mir fortgeführten, Reprint-Ausgabe der Werke Zinzendorfs gibt der Herausgeber Dietrich Meyer in der Allgemeinen Einleitung eine plausible Erklärung dafür, warum es überhaupt noch eine kritische Textausgabe braucht, die – seit Jahrzehnten von der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus geplant – viel Geld und Power der Pietismus-Forschung verschlingt: Einerseits liegen Zinzendorfs Schriften z.T. in unterschiedlichen, voneinander abweichenden Auflagen vor, andererseits gibt es viele ungedruckte Reden und Texte Zinzendorfs, die bisher nur äußerst schwer zugänglich sind. (Wer seine Handschrift lesen will, muss zuvor einen Kurs im Unitäts-Archiv in Herrnhut absolvieren.) Als Auswahl-Ausgabe setzt die geplante Edition Schwerpunkte: Der junge Zinzendorf steht im Vordergrund (Jugendtagebücher, Unionsschriften, die Korrespondenz mit dem französischen Kardinal Noailles, das Periodicum Der Dresdner Sokrates, die ältesten Berichte von der Entstehung Herrnhuts). Die Ausgabe will den Akzent weniger auf den erbaulichen Zinzendorf und seine Predigten legen und stattdessen seine Wirkung als Organisator, Pädagoge, Anreger und Seelsorger zur Geltung bringen. Ob die Predigten des Grafen – er verstand sie ja gar nicht im eigentlichen Sinne als Predigten, sondern als Gemeinreden – tatsächlich auf diese Weise von den übrigen Schriften Zinzendorfs abgegrenzt werden können, erscheint mir fraglich: Mir fiel bei der Lektüre der sämtlichen gedruckten Predigten im Zusammenhang mit meiner Dissertation auf, dass sie häufig über die Normal-Predigt im Sinne einer Auslegung von Bibelversen weit hinausgegen, und in ihnen gerade die genannten „nicht erbaulichen“ Themen vor der Gemeinde diskutiert werden. Dessen ungeachtet ist es natürlich sehr sinnvoll, wenn durch die neue Edition der Werke Zinzendorfs deutlich wird, dass er einer der bedeutendsten evangelischen Theologen überhaupt war.

Der Band der Schriften des Grafen zu Bibel und Bibelgebrauch spiegelt, wie in der Einleitung formuliert wird, „Zinzendorfs intensives Bemühen um einen verständlichen und zeitgemäßen Bibeltext“ wider (XIV). Zurecht wird darauf hingewiesen, dass dieses Bemühen bisher zu wenig Beachtung gefunden hat. Einzig die Losungen mit ihrer Erfolgsgeschichte sind als Erfindung des Grafen im theologischen, ja sogar im öffentlichen, Bewusstsein angekommen. Bd. 7 der neuen Edition zeigt, dass die Losungsarbeit des Grafen in einem größeren Zusammenhang gesehen werden muss. Die Teilbände von Bd. 7 wollen die langjährige Beschäftigung Zinzendorfs mit der Bibel dokumentieren.

Das erste Projekt stellte in diesem Zusammenhang die Ebersdorfer Bibel dar. Es ging in der in Ebersdorf im Vogtland gedruckten Bibel darum, die Bibel aufgrund eines günstigen Verkaufspreises einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Damit reihte Zinzendorf und die junge Brüdergemeine sich in die Bestrebungen des Halleschen Pietismus ein, wo es aus diesem Grund bereits 1710 auf Initiative August Hermann Franckes zur Gründung der von Cansteinschen Bibelgesellschaft, der ältesten der Welt, gekommen war. Der Ebersdorfer Bibel liegt der auch in der Bibelausgabe der Cansteinschen Gesellschaft abgedruckte Luthertext zugrunde. Neu sind allein die teilweise von Zinzendorf verfassten Summarien (von einzelnen Kapiteln und größeren Bibelteilen). Außerdem werden einige Vorschläge neu übersetzter Bibelpassagen von Johann Andreas Rothe, Zinzendorfs Ortspfarrer, beigefügt. Jürgen Quack erläutert in seiner Einleitung die historischen Zusammenhänge und ist für die kritische Edition der neuen Texte verantwortlich. Er stellt heraus, dass hier erstmals in einer Bibelausgabe Skeptiker und Zweifler als Adressaten der Vorrede genannt werden. Dem entspricht das Anliegen der Verständlichkeit der Bibelübersetzung. Die Druck- und Verkaufsgeschichte der Ebersdorfer Bibel liest sich wie ein Krimi. Dabei wird deutlich, dass die Bibelübersetzung Luthers damals – vor allem im Gebiet des Luthertums – als sakrosankt galt und selbst eine äußerst vorsichtige, nur indirekte Kritik am Text der Übersetzung unweigerlich die Beschlagnahmung einer Bibelausgabe nach sich zog. Nur dank der Zugehörigkeit Zinzendorfs zum sächsischen Hochadel wurden entsprechende Verfügungen wieder aufgehoben. Erst 1854, also rund 150 Jahre später, wurde im Luthertum offiziell der Versuch gemacht, eine Revision der Lutherübersetzung vorzulegen.

Das zweite Projekt Zinzendorfs im Zusammenhang der Bibelübersetzung stellen frühe Übersetzungsversuche von 1732 bis 1738 dar. Sie erfolgten im Rahmen eines sog. Collegium Biblicum, zu dem neben dem Grafen wechselnde, z.T. berühmte Theologen der damaligen Zeit, wie Christoph Oetinger und Gottlieb Spangenberg (der spätere Nachfolger Zinzendorfs in der Leitung der Brüdergemeine) gehörten. Zwischen 1734 und 1738 wurden Übersetzungen von mehreren neutestamentlichen Bibelteilen gedruckt und der Öffentlichkeit mit der Bitte um Stellungnahme vorgelegt. Kai Dose rekonstruiert die spannende Geschichte des Collegium Biblicum und der frühen Übersetzungsversuche zum 1Tim, zu Judas und Hebr, zur Bergpredigt und zu Offb 1–4 und verantwortet auch die kritische Edition dieser Texte, die in der Reihenfolge ihrer Entstehung abgedruckt werden. Dabei ist wissenschaftlich nicht nur die Auseinandersetzung zwischen Zinzendorf und Oetinger von besonderem Interesse, sondern auch die dabei sichtbar werdende unterschiedliche Intention, die beide bei der Bibelübersetzung verfolgen: Während es dem Grafen um eine Übersetzung geht, die dem Glaubensverständnis der Brüdergemeine entspricht, ist Oetinger primär an einer philologisch korrekten Übersetzung interessiert. Aufschlussreich sind in meinen Augen dabei Parallelen zur Übersetzungstätigkeit Luthers: Auch beim Collegium Biblicum handelte es sich um eine Gemeinschaftsarbeit, wobei Zinzendorf als spiritus rector zu gelten hat. Wie Luther war auch der Graf von einer notwendigen Permanenz der Verbesserungen im Hinblick auf die Bibelübersetzung überzeugt. Schließlich fällt auf, dass Zinzendorfs Eintritt in das geistliche Amt und seine Hinwendung zu Luther in den 1730er Jahren offensichtlich im Zusammenhang mit seiner intensiven Beschäftigung mit der Übersetzungsarbeit am Neuen Testament stand: „Der Wunsch, eine neue (‚moderne‘?) Bibelübersetzung zu schaffen, in der Gottes eigenes Wort klar zutage tritt, und die damit einhergehende eigene intensive ‚Bibelarbeit‘, das hat Zinzendorf nach 1733 entscheidend theologisch verändert“ (Kai Dose, 367).

1739 gab Zinzendorf das ganze Neue Testament in neuer Übersetzung in zwei Teilbänden heraus, sein drittes Projekt im Rahmen der Bemühungen um die Bibel. Zunächst erschienen im Frühjahr die Evangelien und die Apg, im Herbst dann die Briefe und die Offb. Bereits die Veröffentlichung des ersten Teils hatte Kritik ausgelöst, auf die der Graf bei der Herausgabe des zweiten Teils reagierte. Auf die Kritik am zweiten Teil antwortete er in einer „Nacherinnerung 1741“. Beide Teile der Bibelübersetzung wurden schließlich in einer erneut überarbeiteten Fassung von Zinzendorf 1744 bzw. 1746 ein zweites Mal veröffentlicht.

Im vorliegenden Band kommt zunächst der Teil 1 von Zinzendorfs Bibelübersetzung (Evangelien und Apg) zum Abdruck. Die Herausgeber haben sich dabei zu einem vierspaltigen Textabdruck entschieden: Novum Testamentum Graecum 1734 (Bengel), Abermaliger Versuch 1739 (Zinzendorf), Abermaliger Versuch 1744–1746 (Zinzendorf), Ebersdorfer Bibel 1727 (Luther). Bengels griechisches Neues Testament stellte damals die zuverlässigste Fassung des Urtextes dar und war dem Grafen hinlänglich bekannt. Zinzendorfs Übersetzung des Neuen Testaments bildet, wie Dietrich Meyer zu Recht schreibt, den „Höhepunkt und das bedeutendste Dokument der Bemühungen Zinzendorfs um eine neue Bibelübersetzung“. Das wird dem Leser schnell deutlich, wenn er Zinzendorfs Übersetzung mit der alten, an vielen Stellen unverständlichen Übersetzung Luthers (aus der Ebersdorfer Bibel) vergleicht. Es ist heute kaum noch nachvollziehbar, wieso die lutherische Kirche und Theologie noch einmal 150 Jahre brauchte, bevor sie sich zu einer Revision der alten Lutherübersetzung entschied.

Angesichts der hervorragenden Ausstattung auch dieses Bandes und seiner Einleitung durch Kai Dose bleibt nur ein Wermutstropfen: Leider wird erst in Bd. 7/4 der geschichtliche Überblick für die Jahre zwischen 1738 und 1748 vorgelegt, in dem im Einzelnen erläutert wird, wie es zu den beiden Ausgaben der Übersetzungen des Neuen Testaments durch Zinzendorf kam.

 

Prof. Dr. Peter Zimmerling, Professor für Praktische Theologie, Universität Leipzig

 

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